Die Einladung zu einem einwöchigen Aufenthalt in der Toskana im Haus von Freunden bot mir endlich die Gelegenheit für die Umsetzung eines fotografischen Projekts, das schon seit vielen Jahren in meinem Hinterkopf schlummerte: Die Langzeitbelichtung von Wasser. Jeder kennt die typischen Landschaftsaufnahmen, bei denen das Wasser die Konsistenz von Nebel oder Dunst hat, der an einen mystischen Abstecher in die Welt der Elfen erinnert. Als alter Ausrüstungsfetischist - je schlechter der Fotograf, desto besser die Ausrüstung - war ich mit einem schweineteuren Graufilter mit einem Verlängerungsfaktor von 1000, entsprechend zehn Blendenstufen, sowie den Anpassungsringen für meine anderen Objektivdurchmesser bewaffnet. Halali!. Da das Plätschern des am Talgrund verlaufenden Baches weithin hörbar war und unser Haus in Sichtweite des Baches lag, bestand sogar für jemand wie mich berechtigte Hoffnung mich nicht zu verlaufen. Jede Auster dürfte einen besseren Orientierungssinn haben als ich.
Barfußlaufen schminkte ich mir schon nach dem ersten Versuch sehr schnell ab. Stachlige Weißdornäste, die allgegenwärtige Brombeere und die wehrhaften Fruchtbecher der Esskastanie bringen selbst die phlegmatischste Fußsohle schon nach 10 Sekunden auf die Palme. Der Bach besaß ein erstaunlich breites Kies- und Geröllbett. Riesige Felsblöcke und entwurzelte Erlenstämme, die teilweise wie ein Riesenmikado übereinander geschichtet waren, sprachen von den gewaltigen Kräften die beim Hochwasser im Frühjahr jedes Jahr freigesetzt werden. Tiefe Gumpen luden zum Baden ein. Nicht mich! Kaltes Wasser und ich haben eine verbindliche Absprache getroffen. Wir gehen einander aus dem Weg. Immer! Eisige Wasserfluten haben für mich eine ähnliche Anziehungskraft, wie ein Gurkenhobel für Dracula.
Jeden Morgen zwischen 6:00 und 9:00 Uhr, wenn die garstige Sonne sich noch irgendwo anders auf der Erdkugel herumtrieb, war ich auf der Pirsch. Es war reizvoll, sich ungestört und mit aller Zeit der Welt an ein völlig neues, fotografisches Thema heranzutasten. Mein brandneuer Graufilter, der gierig nach seinem ersten Einsatz hechelte, erlebte gleich den Schock seines Lebens. Da der Bach noch im tiefen Schatten lag, lagen die Belichtungszeiten auch ohne Graufilter irgendwo zwischen einer und 30 Sekunden. Der Filter sprach die ganze restliche Woche kein Wort mehr mit mir!
Das Feuer der Begeisterung wich schnell einer gewissen Ernüchterung. Der unbestritten reizvolle Langzeitbelichtungseffekt des Wassers allein macht noch kein gutes Foto. Der Effekt selbst ist bei der Aufnahme ja noch nicht sichtbar, daher dauert es eine ganze Weile, bis man beurteilen kann ob ein Motiv brauchbar ist oder nicht. Hier war der Faktor Zeit hilfreich. Eine Woche lang jeden Morgen den gleichen Ort fotografieren zu können, ist aus pädagogisch-didaktischer Sicht absolut Klasse. Schritt für Schritt wurden die Ergebnisse besser.
Das leise Murmeln des Bachlaufs schien mir etwas mitteilen zu wollen, und am dritten Tag konnte ich diese Nachricht tatsächlich verstehen: „Engagierte Fotografen mit Mumm in den Knochen würden ihr Stativ natürlich INS Wasser stellen. Weicheiknippser sehen das wohl anders!“ Muss ICH mich von einem toskanischen Bach dumm anmachen lassen? Ich bin kein Weichei!!! Ich würde Drachen mit der bloßen Faust erwürgen und ohne mit der Wimper zu zucken Prinzessinnen aus brennenden Schlössern retten. Eiskaltes Wasser ist eine ganz andere Nummer! Um dem dämlichen Bach sein arrogantes Mundwerk zu stopfen, stürzte ich mich alles andere als furchtlos in die Klauen des Wahnsinns. Toskanische Bäche mögen zwar eine große Klappe haben, aber offensichtlich besitzen sie auch ein Blick für das Wesentliche. Die Qualität der Fotos nahm schlagartig zu. Es kam wie es kommen musste. Irgendwann stand ich bis zu den Oberschenkeln in den eisigen Fluten. Und jetzt vertraue ich euch ein grässliches Geheimnis an, dass noch nie über meine Lippen gekommen ist: Dieses völlig perverse Verhalten hat allen Ernstes tierisch Spaß gemacht! Ich schäme mich!!
Es sind noch keine Einträge vorhanden.